Eine Geschichte mit realem Hintergrund. Wir merken erst dann, wieviel Zeit wir für Dinge, die uns nicht nahe stehen, verschwendet haben, wenn diese Zeit auf einmal abgelaufen ist. Wenn man merkt, dass man viele Worte ungesagt gelassen, viele Träume ungeträumt gelassen hat.
Der Strand. Er wußte nicht, wie oft er hier schon gesessen hatte. Stunden, Tage, Wochen? Er hatte es vergessen.
Früher! Ja, früher, da hatte er mit ihr hier gesessen. Stunden, Tage, Wochen......
Wie lange war es her? Auch das hatte er bereits vergessen, aber den Schmerz, den konnte er nicht vergessen.
Er starrte immer nur in die graue See. Kalte Wellen leckten über den Strand, auf dem noch Treibholz und Algen lagen vom letzten Sturm. Hatte er da schon hier gesessen? Er wusste es nicht mehr. Der
Wind griff mit Grabesfingern nach ihm. Aber er spürte es nicht mehr. Die Kälte in seinem Herzen war viel stärker als der Wind, der an ihm riss.
Stunden, Tage, Wochen.......
Er sah sie immer vor sich, wie sie in ihrem blauen Sommerkleid über den Strand tanzte, die Sonne ließ ihr Haar wie Gold glänzen. Ihre Füße berührten den Boden kaum, so kam es ihm vor. Er versuchte,
sie zu fangen, immer und immer wieder, aber jedes Mal, wenn er glaubte, sie im Arm zu halten, war sie schon wieder verschwunden. Und doch, am Abend, da war sie in seinem Arm, da war sie bei ihm, in
jeder Minute, die sie miteinander verbringen konnten.
Vorbei.......
Er weinte, die Tränen blieben als Eiszapfen in seinem Bart hängen. Er konnte, wollte sie nicht vergessen.
Stunden, Tage, Wochen....
Zeit. Zeit, die sie nie hatten, die sie sich immer stehlen mussten.
"Wir leben von geborgter Zeit.", hatte er immer gesagt. Ja, geborgte Zeit, das Gefühl, schon wieder auf der Reise zu sein, kaum dass man angekommen war. Immer auf der Reise, immer ohne Ziel, doch
wissend, wo man eigentlich hin wollte. Sie war sein Ziel gewesen, alles, was er immer wollte. Und doch, wie ein Schmetterling war sie ihm entflogen.
"Aus!"
Er warf einen Stein in das schäumende Wasser. Ein paar Möwen schrieen ihn klagend an. Doch er hörte es nicht, blind und taub war er.
Zeit!
Wie oft hatten sie versucht, die Uhr zu manipulieren, sich Stunden, Minuten zu rauben. Aber so sehr man sich auch gegen die Uhr stemmte, nichts konnte sie aufhalten, unaufhörlich drehten sich die
Zeiger weiter, sinnlos, ziellos. Zeit macht nur vor dem Teufel halt......
Stunden, Tage, Wochen......
Lebensfreude, die hatte sie immer aufrecht gehalten. Ihr Hunger, ihre Gier nach Leben.....
Immer wieder musste er weg, sie alleine lassen, ohne seine Schulter, die sie doch gebraucht hätte.
Tränen, wenn er gehen musste, Tränen, wenn er wieder ankam. Einsame Tränen, gemeinsame Tränen.
All der Schmerz, den er ihr nicht hatte abnehmen können. All die Stunden, in denen sie verzweifelt alleine war.
Stunden, Tage, Wochen........
Es regnete. Das Wasser tropfte ihm über sein Gesicht. Tropfte wie der Sand, der unaufhaltsam durch die Sanduhr rieselte.
Stunden, Tage, Wochen.......
Ein Anruf, ein eilig gebuchter Flug, Taxifahrt.....
Das weiße Bett. Wie sehr er immer weißbezogene Betten gehasst hatte. Ihr blasses Gesicht, ihre großen Augen.
Ihre Hand, die sich an seine klammerte.
Zu spät, immer wieder zu spät. Und doch, gleichzeitig auch viel zu früh.
Ihr Atem, der immer leiser wurde. Er hielt sie im Arm, als sie dann einschlief, für immer einschlief........
Einsamkeit, Leere, Trauer......
Stunden, Tage, Wochen.....
Er saß am Strand. Einsam, traurig, gebrochen.......
Wartend. Auf was? Er hatte es vergessen......
Stunden, Tage, Wochen..........
© 1998 W. Diefenthal