Der kleine Regentropfen

Manchmal passieren merkwürdige Dinge. So wie an dem Tag, als mir diese Geschichte einfiel.
Zu der Zeit wohnte ich in Köln und fuhr mit der Straßenbahn vom Hauptbahnhof in die Südstadt. Auf einmal kletterte mir ein kleines, blondgelocktes Mädchen auf den Schoß, sah mich an und sagte:
“Erzähl mir eine Geschichte.”
Und so erzählte ich dem Mädchen die Geschichte vom kleinen Regentropfen, die mir spontan einfiel.
Die Mutter war etwas verzweifelt und entschuldigte sich bei mir, aber ich hatte Freude daran, das kleine Mädchen für ein paar Minuten glücklich zu machen.
Was aus den beiden geworden ist? Keine Ahnung, ich habe sie nie mehr gesehen.

Es war einmal ein kleiner Regentropfen. Der saß auf seiner Wolke und ließ sich um die schöne, blaue Welt treiben. Von Zeit zu Zeit sah er hinunter. Auf einmal sah er das Meer. Schön anzusehen, das Wasser türkisfarben, die Wellen wiegten sich sanft, und es war nur Wasser zu sehen, soweit der kleine Regentropfen auch schaute.
"Oh Prima", dachte sich der kleine Regentropfen, "bald wird es regnen, und ich werde in dieses schöne, blaue Wasser fallen. Dort sind bestimmt noch viel mehr von meiner Art, dann kann ich spielen, reden, lachen. Es wird bestimmt eine schöne Zeit."
So dachte der kleine Regentropfen. Aber die Wolke dachte nicht daran, ihn fallen zu lassen. Weiter musste er ziehen, bis er die Küste sah. Er sah grüne Wiesen, Felder, Tiere, Menschen. Und einen See. Auf dem See waren lauter kleine Segelboote, und er konnte Fische sehen, die im Wasser schwammen.
"Da möchte ich hin", sagte der kleine Regentropfen. "Dort ist es bestimmt noch sehr viel schöner, dort werde ich viele Freunde finden."
Aber auch hier zog die Wolke vorüber. Der kleine Regentropfen wurde traurig. Und auch ein wenig ungeduldig. Er wollte Regnen, wollte hinunter zu den anderen Tropfen, die er dort vermutete.
"Sei nicht so ungeduldig, mein junger Freund.", sagte die Wolke zu ihm. "Wenn es an der Zeit ist, dann wirst Du schon an deinen Bestimmungsort gelangen."
"Aber wann und wo ist das?", fragte der Regentropfen.
Aber die Wolke hüllte sich in graues Schweigen.
Weiter ging die Reise. Auf einmal schwebte die Wolke über einem breiten Fluss. Der Regentropfen sah hinunter. Da waren grosse Schiffe, voll mit lauter Sachen und Menschen.
"Au ja, da möchte ich hin. Da sind nicht nur viele andere Regentropfen, da gibt es auch viel zu sehen."
So sprach der kleine Regentropfen.
Die Wolke lächelte.
"Du kannst dich schlecht entscheiden, wie? Das Meer, der See, der Fluss. Aber auch hier werden wir nicht bleiben."
"Aber warum nicht? Hier ist es doch sehr schön."
"Geduld.", sagte die Wolke.
Sie kamen in die Berge. Hügel und Täler, Kühe auf saftigen Wiesen und ein klarer Gebirgsbach, der munter die Steine hinuntersprang.
"Oh ja, hier," so rief der kleine Regentropfen voller Freude, "hier möchte ich bleiben. Da sind Stufen, über die man springen kann, und so viel zu sehen. Bitte, Wolke, lass es regnen."
Aber die Wolke schwieg. Wie sollte man diesem ungeduldigen Ding auch erklären, was die Wolke schon so lange wusste? Sie bat den Wind, sie etwas stärker zu schieben, und der Wind blies etwas stärker.
Weiter ging die Reise, die Bäche wurden immer schmaler, die Gegend immer öder. Der Regentropfen dachte schon, dass die Reise wohl nie enden würde, bis sie schliesslich an einem einsamen Hang angelangten, der nur aus Steinen und Geröll zu bestehen schien.
"Endstation!", rief die Wolke.
"Was? Hier soll ich bleiben? Hier ist doch nichts.", so sagte der kleine Regentropfen noch, als es nach unten ging.
Er fiel und fiel und kam auf die Erde, mit ihm Tausende und Abertausende anderer kleiner Regentropfen, die über die trockene Erde liefen, sich vereinten, zu einem Rinnsal, dann zu
einem Bach wurden. Und weiter ging es, in den Bach, den Fluss, den See und schließlich in das große, blaue Meer. Und der kleine Regentropfen sah all die wunderschönen Dinge, die er von oben schon erahnt hatte, und verstand schließlich, was die Wolke ihm hatte sagen wollen.
Eines Tages dann saß er wieder auf der Wolke und trieb wieder über die Erde, über das Meer, das Land, den See, den Fluss. Aber er sagte nichts. Die Wolke brach schließlich das Schweigen
"Du bist so still. Bei deiner ersten Reise warst Du wesentlich ungeduldiger."
"Ach Wolke,", seufzte der kleine Regentropfen, "ich habe verstanden, was Du mir sagen wolltest. Lieber ein wenig warten und mehr sehen, als voller Ungeduld nur ein wenig von allem zu haben."

Die Wolke lächelte weise und ließ sich vom Wind weitertreiben.

 

© 1998 Werner Diefentha

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