Ich konnte noch hören, wie meine Mutter sich mit meinem Großvater stritt.
„Musstest du den Jungen so erschrecken?“
„Guyana, du weißt so gut wie ich, dass es ihm vorbestimmt ist. Er muss zurückkehren und die Ordnung wiederherstellen.“
„Oh nein, das werde ich zu verhindern wissen. Er mag zwar der Schwertträger sein, aber er ist noch viel zu jung!“
„Wenn die Zeit reif ist, fragt niemand nach dem Alter. Er wird die innere Kraft haben, die Dschuan nicht hatte.“
„Lass meinen Mann aus dem Spiel. Es geht hier um mein Kind. Ich werde nicht zulassen, dass das Ganze noch einmal beginnt. Es muss ein Ende haben!“
Den letzten Satz hatte sie so leise geflüstert, dass ich ihn kaum hatte verstehen können.
„Du sagst es! Genau das ist doch der Punkt: Es muss ein Ende haben! Wir werden nicht gefragt, ob wir wollen. Wir sind alle nicht gefragt worden! Auch du nicht, und doch hast du dich entschieden. Du
weißt, dass du es nicht aufhalten kannst. Das Schwert wird ihn finden.“ „Ich will nichts mehr davon hören. Es ist genug!“, unterbrach meine Mutter ihn grob.
Ich hörte, wie sie das Zimmer verließ. Diese Diskussion hatte mich noch mehr verwirrt als das, was mein Großvater zu mir gesagt hatte. Wieso nannte er meine Mutter Guyana und meinen Vater Dschuan?
Ihre Namen waren Heather und John. Und von welchem Schwert war die Rede?
All diese Erinnerungen schossen mir durch den Kopf, als mein Vater und ich auf die Truhe zugingen. Als ich vor ihr stand und meine Hand auf ihrem schweren Holz lag, das sich warm und lebendig
anfühlte, wusste ich, dass ich gleich Antworten auf all meine Fragen erhalten würde. Das Holz schien zu pulsieren, anders als bei meinem heimlichen Versuch damals. Es schien mich zu rufen, als würde
es mich erkennen. Ich war verwirrt.
Etwas zog mich an, als meine Hand über die feine Maserung strich. Der Ruf schien lauter zu werden, die Wärme unter meiner Hand verwandelte sich in eine Hitze, die nach und nach auf meinen Arm und
meinen ganzen Körper übergriff. Aber es war nicht unangenehm, ganz im Gegenteil. Ich fühlte mich wohl und geborgen, verstand jedoch nicht, was vor sich ging. Ich suchte den Blick meines Vaters.
„Michael, du wirst diese Truhe jetzt öffnen müssen.“
„Aber ich kann nicht. Sie wird sich nicht öffnen lassen, ich weiß es.“
Die Hitze nahm weiter zu, und das Holz begann zu vibrieren. Ich bekam es mit der Angst zu tun und zog meine Hand zurück in der Hoffnung, dass ich mich beruhigen würde. Aber genau das Gegenteil war
der Fall. Als meine Haut den Kontakt mit dem Holz verlor, erfasste mich Panik; ich fürchtete mich vor dieser Truhe, die mich in sich aufsaugen zu wollen schien. Ich versuchte meinem Vater den Platz
an der Truhe zu überlassen, damit er sie öffnen konnte, doch er schüttelte den Kopf.
„Nein, Michael. Nur du kannst die Truhe öffnen. Selbst wenn ich könnte, würde sich ihr Inhalt mir nicht mehr offenbaren. Es ist jetzt dir bestimmt, dieses Geheimnis in den Händen zu halten. Nur Mut,
versuche es.“
Ich zögerte immer noch. Ich ahnte, dass ich, sobald sich dieser Deckel öffnete, nie mehr der Michael sein würde, der ich bis zu diesem Moment gewesen war. Was dann geschah, wäre nicht mehr
aufzuhalten. Aber ich wusste auch, dass ich keine Wahl hatte. Innerlich wehrte ich mich, doch meine Hand entwickelte ein Eigenleben und bewegte sich auf den Deckel zu. Zu meiner Überraschung schwang
er jedoch lautlos zurück, kaum dass meine Fingerspitzen ihn erneut berührt hatten. Ängstlich und zögernd sah ich hinein. Das Innere der Truhe war mit schwarzem, von goldenen Fäden durchwirktem Samt
ausgeschlagen. Ein gedämpftes Licht, dessen Quelle ich nicht ausmachen konnte, erhellte diesen Innenraum nur mäßig, begann jedoch intensiver zu leuchten, je näher mein Gesicht der Öffnung der Truhe
kam. Ich kniff meine Augen zusammen, um besser sehen zu können. In meinen Ohren rauschte das Blut und ich hörte mein Herz schlagen. Nach einer Weile hatten sich meine Augen an das schummrige Licht im
Inneren der Truhe gewöhnt. Ich hatte alles Mögliche erwartet, dass die Truhe voller Münzen oder Bücher oder sonst etwas war. Nun war ich einerseits erleichtert, aber andererseits auch enttäuscht,
denn die Truhe war bis auf einen Gegenstand, der tief unten verborgen lag, leer.
„Was ist das?“, fragte ich mit belegter Stimme.
„Das, was dort unten auf dich wartet, ist das Erbe, das du nun antreten musst. Es ist die Antwort auf all deine Fragen. Es ist die Vergangenheit, die Gegenwart und eine mögliche Zukunft.“